Ohne die Kulturtechnik des Schwimmens wird es dem Volk der Dichter und Denker an Geist und Tiefgang fehlen

Charles Sprawson, der seine Kindheit in Indien verbrachte, wo er im unterirdischen Gewölbe eines Prinzenpalastes das Schwimmen lernte, nutzt die Worte des Meeresgottes Proteus in Goethes „Faust II“ als Einladung, „Ich nehme Dich auf meinen Rücken, vermähle Dich dem Ozean“, das Wesen des Schwimmers zu ergründen. Es geht ihm aber auch um die epische, „homerische Dimension“ des Schwimmens.

Kurze Kulturgeschichte des Schwimmens

In seiner Kulturgeschichte erzählt Sprawson von Nymphen und Najaden im klassischen Griechenland, führt den Leser nach Rom in die Hauptstadt der Aquakultur – bis ins Mittelalter, als das Christentum begann, Blöße und Sinnlichkeit zu verteufeln: Der Hellespont war Schauplatz einer antiken Liebes- und Schwimmtragödie: Um mit Hero, einer Priesterin der Aphrodite, heimliche Liebesstunden zu verbringen, durchschwamm der junge Leander jede Nacht die Stelle, bis ihn in einem winterlichen Sturm die Wellen besiegten. Er ertrank, und Hero stürzte sich in die Fluten, ihm hinterher. Die antike Legende wurde zum Schwimm-Mythos, denn sie enthält das Wesen des Schwimmens: die Lust am Grenzgang, Mut, Körperkraft, Beharrlichkeit und Erotik.

Sogar im Winter und nachts badete er in Weimar in der Ilm

Johann Wolfgang von Goethe,
Ölgemälde von Joseph Karl Stieler
Ohne diese Kulturtechnik wird es dem Volk der Dichter und Denker an Geist und Tiefgang fehlen. Dabei hatte auch schon Goethe die Bedeutung des Schwimmens erkannt – er entwarf sogar einen Schwimmgürtel aus Kork, mit dessen Hilfe er sich das Schwimmen selbst beibrachte. Sogar im Winter und nachts badete er in Weimar in der Ilm und schwor auf die wohltuenden Wirkung des kalten Wassers, das ihm auch half, so manche „Phantaseyungen“ zu ersäufen. Nach Karlsbad und Wiesbaden kam er wegen der Thermalquellen, die ihn auch zu Reimen inspirierten: „Beim Baden sei die erste Pflicht, dass man sich nicht den Kopf zerbricht, und dass man höchstens nur studiere, wie man das lustigste Leben führe.
Im alten Griechenland waren die Menschen von der heilenden Kraft des Wassers überzeugt. Schwimmen gehörte bei Römern und Griechen zur „lustvollen Bildung“. Im alten Rom gab es bis zu 800 öffentliche Bäder, die der Lustbarkeit dienten, aber auch der sportlichen Ertüchtigung. Schwimmen wurde ebenso wegen seiner kriegerischen Qualitäten geschätzt. So gab es in der römischen Armee ein Regiment schwimmender Germanen sowie eine Spezialeinheit von Tauchern. Auch die Mauren pflegten einen nachhaltigen und kunstvollen Umgang mit Wasser. Die spanischen Bewässerungssysteme sind teilweise heute noch intakt. Allerdings gab es von 400 Dampfbädern der Mauren in Granada 100 Jahre, nachdem die Christen die Stadt zurückerobert hatten, nur noch eins. Für das Christentum war die Lust am Wasser Sünde. So geriet die Kulturtechnik Schwimmen im Mittelalter zunächst in Vergessenheit.

Das Ertrinken war eine weit verbreitete Todesart und blieb es

Erst mit der Renaissance fand das Abendland langsam wieder zum Schwimmen zurück. „De arte natandi“ („Von der Schwimmkunst“) lautet der Titel des Lehrbuchs des elisabethanischen Theologen Everard Digby, das die Menschen von „dem gierigen Schlund der anschwellenden See“ bewahren wollte. 1587, als das Buch erschien, war das Ertrinken eine verbreitete Todesart und blieb es, denn Digbys auf Latein geschriebenes Buch fand zunächst wenig Verbreitung fand.

Mit tausend flüssigen Brustwarzen über seinen ganzen Körper

Nach langer „christlicher Unterbrechung“ wurde das Schwimmen von reisenden Engländern im 18. Jahrhundert wiederbelebt, und übte bald großen Einfluss auf Literatur und Kunst aus. Die Bewegung im Wasser wurde aber auch von Abenteurern, Exzentrikern und englischen Aristokraten neu entdeckt. Der britische Dichter Lord Byron vertrieb sich „die sehnsuchtsvolle Leere“ bevorzugt mit dem Schwimmen. Als er 1810 den Hellespont durchschwamm (im zweiten Anlauf gelungen), ließ er sich dafür feiern: „Ich brüste mich mit dieser Leistung mehr als mit jeder anderen Art von Ruhm, sei er politisch, poetisch oder rhetorisch.“ Zuvor war er in schottischen Flüsse, englische Seen und im Hafen von Piräus unterwegs. Der Canal Grande und Genfer See folgten. Gustave Flaubert faszinierte die Sinnlichkeit griechischer Wassermythen: Er sehnte sich nach einem „Wasser, das mit tausend flüssigen Brustwarzen über seinen ganzen Körper streicht“.

Der erste Mensch, der den Ärmelkanal durchquerte

Matthew-Webb © sdfdsfdsfsCourtesy of Ironbridge Gorge Museum Trust
Erst 1878 verlangte die britische Marine von allen Matrosen den Freischwimmer. Der erste Mensch, der den Ärmelkanal durchquerte, war 1875 der Brite Matthew Webb. Seinen Brustschwimmstil kopierte die ganze Nation. Etwa 50 Jahre später stellte die Amerikanerin Gertrude Ederle einen für beide Geschlechter geltenden Geschwindigkeitsrekord auf, der 24 Jahre hielt. Im 20. Jahrhundert gehörten Johnny Weissmüller, Marc Spitz und Michael Phelps zu den besten Schwimmern.

Wir kannten die Gefahr

Lynn Sherr, Fernsehreporterin aus New York, widmet sich in ihrem Buch „Über unsere Liebe zum Wasser“ der Geschichte des Schwimmens, sie schreibt über berühmte Leistungen, beispielsweise Gertrude Ederles Überquerung des Ärmelkanals. Schwimmen hat für sie mit „Rettung“ und Überleben zu tun. So sehen dies auch viele ältere Menschen wie der Chieminger Franz Wiesholler, der mit Ende 80 den Chiemsee durchschwommen hat. Er ist in einer Zeit aufgewachsen, in der es keine Schwimmkurse und Freibäder gab. „Uns hat keiner das Schwimmen beigebracht, aber wir haben trotzdem gewusst, wie wir uns im Wasser verhalten mussten. Wir kannten die Gefahr.“ Das war in den Flussbädern überlebensnotwendig.

Man hat keine Angst, kein Schwindelgefühl

Hannah Arendt
Es ist „die Gelegenheit, frei dahinzugleiten, so nahe am Fliegen, wie ich nur jemals kommen kann“. Dieses Gefühl beschreibt auch die Publizistin Hannah Arendt in einem Brief an Heinrich Blücher in New York (28./29. November 1949): Fliegen war für sie „ganz unbeschreiblich herrlich. Man ist mitten im Himmel, d.h. bewegt sich so selbstverständlich in der Luft wie ein guter Schwimmer im Wasser. Man hat keine Angst, kein Schwindelgefühl, weil das Nach-vorne-gezogen-werden bzw. das Fliegen selbst einem ein anderes Bezugssystem verleiht.“ Sie freute sich immer auf das Schwimmen (vgl. Brief an Mary McCarthy in Paris, 20. Mai 1962 und an Uwe Johnson in Berlin, 7. Februar 1972).
Sherr schreibt aber auch über den Hellespont, der in den letzten Jahrzehnten zu einem der großen internationalen Schwimmevents im offenen Wasser geworden ist. Auch hat sie sich selbst gut vorbereitet für ihre eigene Hellespont-Überquerung: Sie nahm Übungsstunden, studierte Kraultechniken, interviewte Schwimmveteranen und trainierte Trizepse. Am türkischen Ufer wurde ihr nach einer Schwimmzeit von einer Stunde und 24 Minuten eine Medaille verliehen – sie startete mit 69 Jahren als Einzige in ihrer Altersklasse.

Zeitlose Liebe

In ihrem Buch widmet sich Sherr darüber hinaus den gesundheitlichen Vorzügen des Schwimmens. Auch Forscher an der Harvard Medical School erklärten das Schwimmen längst zur besten Sportart, um das Herz zu stärken: Im Wasser pumpt das Herz mehr Blut in den Kreislauf als bei anderen Bewegungsarten. So werden Herzmuskel und Blutgefäße gekräftigt und der Organismus besser mit Sauerstoff versorgt. Durch die Beschaffenheit von Wasser steigt der Puls langsamer.

Je weiter man ins Wasser geht, desto leichter wird man

Wer bis zur Hüfte im Wasser steht, wiegt nur noch die Hälfte, schwimmend gleicht der Auftrieb das Körpergewicht fast aus. „Schwimmen ist das Einzige, was du von deinem ersten Bad bis zum letzten tun kannst, ohne dich zu verletzen, nur im Wasser bist du schwere- und alterslos.„, sagt der Hollywood-Star Esther Williams, eine frühere Profischwimmerin.
Schwimmen lernen heißt denken und leben lernen. Dabei muss nicht jeder ein Profi werden. Es reicht auch, ein guter Amateur zu sein – jemand, der das Lernen und Üben liebt. Am wichtigsten ist es, ins Wasser zu springen. Wer nur die Zehen ein bisschen hineinhält und nicht nass werden will, wird sich und andere niemals bewegen können.
Teil 2 von 2
1. Teil: Elementarkenntnisse statt Unwissenheit: Was Schwimmen mit Lesen, Schreiben, Rechnen und Programmieren verbindet
2. Teil: Ohne die Kulturtechnik des Schwimmens wird es dem Volk der Dichter und Denker an Geist und Tiefgang fehlen

Weiterführende Literatur:


Copyright Steffi Henn
Dr. Alexandra Hildebrandt, © Steffi Henn
Autorin Dr. Alexandra Hildebrandt ist Nachhaltigkeitsexpertin und Wirtschaftspsychologin. Sie studierte Literaturwissenschaft, Psychologie und Buchwissenschaft. Anschließend war sie viele Jahre in oberen Führungspositionen der Wirtschaft tätig. Bis 2009 arbeitete sie als Leiterin Gesellschaftspolitik und Kommunikation bei der KarstadtQuelle AG (Arcandor). Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) war sie von 2010 bis 2013 Mitglied der DFB-Kommission Nachhaltigkeit. Den Deutschen Industrie- und Handelskammertag unterstützte sie bei der Konzeption und Durchführung des Zertifikatslehrgangs „CSR-Manager (IHK)“. Alexandra Hildebrandt ist Sachbuchautorin, Hochschuldozentin, Herausgeberin und Mitinitiatorin der Initiative www.gesichter-der-nachhaltigkeit.de. Sie bloggt regelmäßig für die Huffington Post zu Nachhaltigkeitsthemen und ist Co-Publisherin der Zeitschrift „REVUE. Magazine for the Next Society”. Dr. Alexandra Hildebrandt bei Twitter.

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