Der lange Weg zur Achtsamkeit oder warum Achtsamkeit so stressig ist.

Achtsamkeit ist ein schönes Wort, es hat etwas Sanftes, Behutsames – „Achtsam…“, aufeinander achten, liebevoll mit sich und anderen umgehen… hach…. Aber es hat auch etwas Hartes „…keit“. Und über dieses „-keit“ stolpert man, beim Versuch achtsam zu sein. Dieses „-keit“ nervt, frustriert, bringt Zweifel oder verlockt, alles andere zu tun, nur nicht achtsam zu sein. Es denkt, es geht Pläne, Listen und Konversationsoptionen durch, es träumt, es ist genervt, es tut weh. Es steht für all die Gründe, warum man nicht achtsam sein kann und will.

Tausend Gründe, was man jetzt Besseres machen könnte

Wer kennt es nicht, gerade wenn man sich eine Kerze angezündet und ein paar Minuten zwischen Abendessen, Lieblingsserie und Schlafengehen freigeschaufelt hat, die Gedanken an das komisch wirkende Bild einigermaßen erfolgreich beiseite geschoben hat, wie man auf dem Boden im Schneidersitz sitzt, ohne was zu tun, schon geht’s los: Gedankenfetzen, Unruhe, Unwohlsein und tausend Gründe, was man jetzt Besseres machen könnte drängen sich auf.

Aber ist es wirklich der Kopf? Oder nicht vielleicht der Körper?

Der lange Weg zur AchtsamkeitWarum Meditation oder Achtsamkeit so wichtig ist, hat man sich schon so oft erklären lassen und ja eigentlich auch verstanden. Deswegen scheint es umso verwirrender, dass der Kopf es einerseits versteht, aber nicht mitmachen will. Aber ist es wirklich der Kopf? Oder nicht vielleicht der Körper? Aber warum sollte der Körper sich dagegen wehren?
Wenn man all den jahrtausendealten Lehren glauben will, so muss Achtsamkeit und Meditation doch genau das Richtige für den Körper sein! Eben noch lag er ganz entspannt, ohne einen Mucks auf dem Sofa vor dem Fernseher, doch sobald man den Geist zur Ruhe bringen will, wird er wach und beschwert sich mit Unruhe, Beklommenheit, Jucken oder rettet sich in Gedankenflucht. Es ist irgendwie vertrackt. Warum macht der Körper das? Nun ja, zunächst ist der Körper ein Gewohnheitstier und kommt mit dem plötzlich auf ihn gerichteten Scheinwerferlicht nicht zurecht. Zum anderen ist er aber auch, wenn man sich anfängt mit dem Thema Achtsamkeit zu beschäftigen, meist noch ganz schön unter Spannung. Es gibt ja in der Regel einen Grund, sich mit Meditation und Achtsamkeit auseinander zu setzen.

Sinne aktivieren und erahnen

Scharfe-Sinne-WahrnehmungHäufig sind es Stress, Unruhe, Rückenschmerzen, spannungsbedingte Kopfschmerzen, Leere oder Frust, die einen dazu bringen, die bisherige Lebensweise zu hinterfragen und nach Alternativen Ausschau zu halten. Die mediale Präsenz von Achtsamkeit lässt vermuten, dass das genau der richtige Weg sein könnte und irgendwie leuchtet es einem ja auch ein: „Nicht mehr so sehr im Außen sein“, „mehr nach Innen kommen“, „mehr Ruhe finden“, „mehr Körperbewusstsein“. Man ahnt, dass es der richtige Weg ist, aber wie kommt man von der Alltagsstress-Autobahn auf den idyllischen Landweg der Achtsamkeit? Auf jeden Fall nicht von 100 auf null durch eine Vollbremsung. Sondern erst den Dampf ablassen, sich ausrollen lassen, das Fahrzeug verlassen, die Sinne aktivieren und erahnen, wo es abseits der Autobahn interessante Flecken geben könnte. Meist ist es direkt neben der Autobahn nicht besonders hübsch, so dass man erst unangenehmes Gelände überwinden muss, um irgendwann ein schönes Fleckchen zu finden.

Das bewusste Hinrichten der Aufmerksamkeit auf das hier und jetzt

Doch Schritt für Schritt. Beginnen wir mit dem Dampf ablassen: Unser Körper ist unsere Ausdrucksform von Emotionen, also von Körpersensationen, die mit Grund-Gefühlen wie Wut, Trauer, Angst, Freude, Überraschung, Ekel und Verachtung (nach Paul Ekman) verknüpft sind. All die Emotionen, die im Laufe des Tages auftreten, sind vom Gehirn aktivierte nervale Entladungen in entsprechenden Körperregionen. Da wir dem Ausdruck von Emotionen nicht immer freien Lauf lassen können, bleiben blockierte Emotionen in Form von angestauter Ladung, die durch erhöhten Muskeltonus unterdrückt wird, zurück. Zusammen mit einem Stress-Rückkopplungssignal ans Gehirn ergibt das im Laufe der Zeit einen stetig ansteigenden Muskeltonus mit einem emotionalen Verstärker (aus Ärger wird Wut oder Jähzorn) oder Dämpfer (aus Ärger wird Unterwürfigkeit). Dies wird zwar als dysfunktionale Verhaltensweise wahrgenommen, führt aber zu Frustration, solange keine alternativen Verhaltensweisen gefunden werden. D.h. das Stresserleben steigt. Bis zu dem Punkt, an dem man nicht mehr anders kann, etwas ändern will und hoffnungsvoll zur Achtsamkeit greift.
Ausruhen
Doch zeigt einem die Achtsamkeit, also das bewusste Hinrichten der Aufmerksamkeit auf das hier und jetzt, genau die Bilder, die man den ganzen Tag über meidet: die ungelebten Emotionen, die Wut und der Jähzorn oder die Unterwürfigkeit, also die ganzen dysfunktionalen Verhaltensweisen, deretwegen man Stress bekommt. Die Achtsamkeit lässt einen auch das physiologische Korrelat der Emotionen, also die angestauten, blockierten Energien im Körper spüren: die Rückenschmerzen, den Kopf, die Unruhe oder den Druck auf der Brust – und all das soll man annehmen – aushalten und am besten irgendwann auch noch liebevoll annehmen? Achtsamkeit! Genau, du sagst es… das ist richtig frustrierend und nervig!! Da will man am liebsten… Ja – richtig: man will am liebsten seinen Frust rauslassen, aufstehen und gehen! Und das ist gut so!

Emotionale Blockaden ausagieren

Der ganze Druck, die angestaute und blockierte Energie im Körper muss sich lösen und muss ausagiert werden. Deswegen sind vor allem die körperorientierten Übungen wie Yoga und ThaiChi sehr erfolgreich. Aber auch neue Techniken, wie TRE ® (Tension Releasing Exercise), Bioenergetik oder SE ® (Somatic Experience) sind hilfreich, den Köper gut und geordnet zu entladen. In Folge dieser Übungen werden emotionale Blockaden ausagiert, so dass sich der Muskeltonus nach und nach abbaut.
weg-der-achtsamkeit
Parallel muss man natürlich alternative und vor allem konstruktivere Verhaltensweisen, Glaubenssätze und Kommunikationstechniken lernen und aufbauen. Dabei können gezielte Coachings, Psychotherapie, aber auch Selbststudium helfen. Denn was man früher nicht gelernt hat, kann man bis ins hohe Alter immer noch lernen – lieber spät als nie. Sobald die Ursache für das Entstehen von Stress, sowie eine Technik für den Umgang mit angestautem Stress erlernt sind, kann man sich nach und nach der Achtsamkeit widmen und mit Erstaunen feststellen, dass all das zuvor auch schon Achtsamkeit war.


 

Autorin Caroline Böttiger

Caroline BoettigerCaroline Böttiger, M.Sc. Heilpraktikerin für Psychotherapie promoviert an der Charite Universitätsmedizin Berlin im Bereich experimenteller Neurologie, praktiziert als Heilpraktikerin für Psychotherapie in eigener Praxis und ist Dozentin und Seminarleiterin in verschiedenen Bildungseinrichtungen.
Weitere Informationen zur eigenen Praxis unter: www.boettiger-psychotherapie.de. Caroline Böttiger ist zudem Leiterin von Das Mitte Institut – Emotions-Seminare

Das könnte Sie auch interessieren

Dankbarkeit als (Über)Lebenshaltung

Das Erweisen von Dankbarkeit, das die Bindungen innerhalb sozialer Netze verstärkt, findet sich bereits bei unseren Vorfahren und zeigte sich beispielsweise im Tausch von Nahrungsmitteln: So teilten die Schimpansen ihr Fressen systematisch mit denen, die ihnen das Fell gepflegt haben. Mit Berührungen wurde Dankbarkeit gegenüber denen ausgedrückt, die Fressen tauschten. Das ermunterte die Gruppe zu …

Continue reading „Dankbarkeit als (Über)Lebenshaltung“

0 Kommentare

Entspannen im Wasser: 3 Varianten für völliges Loslassen

Schon bei den alten Römern wusste man um die heilenden Kräfte des Wassers. Sie etablierten den Ausdruck „Sanum per aquam“, der uns heute in der Abkürzung SPA bekannt ist. Um sich im Wasser vom Alltagsstress zu erholen, gibt es vielfältige Möglichkeiten. Diese 3 Varianten sind meine persönlichen Highlights: Ein schweben auf dem Wasser – Floating …

Continue reading „Entspannen im Wasser: 3 Varianten für völliges Loslassen“

0 Kommentare

Hand(eln) ohne Täuschung: Darum brauchen wir auch im Digitalisierungszeitalter berührende Erfahrungen

„Wer Worte macht, tut wenig, seid versichert; Die Hände brauchen wir und nicht die Zungen.“ (Shakespeare) Wer sein Unternehmen haptisch prägt, befindet sich auf dem besten Weg zu einem sinnlichen Unternehmen, sagt der Marketingexperte und Autor Karl Werner Schmitz. Ein Beispiel dafür ist die aktuelle Europa-Kampagne der Deutschen Telekom mit dem Star-Tenor Andrea Bocelli. Die …

Continue reading „Hand(eln) ohne Täuschung: Darum brauchen wir auch im Digitalisierungszeitalter berührende Erfahrungen“

0 Kommentare

Schönes Skandinavien: Ein „erlesener“ Wegweiser zu Dingen und Orten.

Alles, was wirklich wichtig ist, finden wir im „Schönen Skandinavien“. Das gleichnamige Buch von Kajsa Kinsella, die 1974 im Süden Schwedens geboren wurde, ist nicht einfach nur ein unterhaltsamer sommerlicher Begleiter, sondern auch ein kluger Wegweiser zu Dingen und Orten, die eine Art Beziehungsgewebe schaffen zu unserem Leben hier und heute. Die skandinavischen Länder gehören …

Continue reading „Schönes Skandinavien: Ein „erlesener“ Wegweiser zu Dingen und Orten.“

0 Kommentare

Packt Euren Rucksack leicht. Das ist Minimalismus der Nachhaltigkeit.

„Ich neige sehr dazu, aus dem Rucksack zu leben und Fransen an den Hosen zu haben“, schreibt Hermann Hesse in seinem Bändchen „Wanderung“, das 1920, mitten in der wirtschaftlichen Depression, in Berlin erschien. Die Erzählung beruht auf Wanderungen, die er zwischen 1916 und 1918 von Bern aus übernommen hat. Rucksackwanderungen, die damals zum Lebensstil gehörten, …

Continue reading „Packt Euren Rucksack leicht. Das ist Minimalismus der Nachhaltigkeit.“

0 Kommentare

Wie Wandern ganz besondere Gefühle in uns wecken kann

Vieles ist heute in die virtuelle Welt „abgewandert“. Und weil „Digital der neue Standard“ (Andre Wilkens) ist, werden physische Orte mit Dingen, die man mit allen Sinnen erleben und anderen physisch begegnen kann, besonders. Es verwundert deshalb nicht, dass immer mehr Menschen das Wandern für sich entdecken. Der Deutsche Alpenverein verzeichnete 2012 den größten Zulauf …

Continue reading „Wie Wandern ganz besondere Gefühle in uns wecken kann“

0 Kommentare

Der neue Ingenieur als idealer Mitarbeiter – Worauf es künftig ankommt

Spezialkenntnisse können im Komplexitätszeitalter sehr schnell veralten, sagt Prof. Henning Kagermann, der auch die Bundesregierung zu Industrie 4.0 berät. Das Thema erfordert Fortbildung, Qualifizierung, Prozess- und Medienkompetenz gleichermaßen. Der habilitierte Physiker ist ehemaliger Vorstandsprecher der SAP AG und seit 2009 Präsident von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, die unabhängige, gemeinwohlorientierte und wissenschaftsbasierte Politik- und …

Continue reading „Der neue Ingenieur als idealer Mitarbeiter – Worauf es künftig ankommt“

0 Kommentare

Wie wir mit gelebter Aufmerksamkeit die Verbindung zu anderen stärken

Wer anfängt, sich in Achtsamkeit zu üben, stellt fest, wie tief verankert Multitasking schon in uns ist. Wie selten konzentrieren wir uns beim Essen wirklich nur auf das Essen, beim Gehen nur auf das Gehen und beim Zuhören erst… Achtsamkeitsübungen helfen uns, ganz bei uns zu sein, was immer auch die äußere Situation sein mag. …

Continue reading „Wie wir mit gelebter Aufmerksamkeit die Verbindung zu anderen stärken“

0 Kommentare

Wer Yang sagt, sollte auch Yin sagen. Über die besondere Magie von Yin Yoga.

Ich bin nach jahrelanger Yogapraxis auf Yin Yoga gestoßen und es hat mich verzaubert. In diesem Artikel möchte ich dir erzählen warum: Wenn du normalerweise Vinyasa, Hatha Flow, Power, Ashtanga oder einen ähnlichen Yogastil praktizierst, wirst du dich in deiner ersten Yin Yoga – Stunde sicherlich über so einiges wundern. Diese eben genannten, bekanntesten und …

Continue reading „Wer Yang sagt, sollte auch Yin sagen. Über die besondere Magie von Yin Yoga.“

0 Kommentare